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Free University of Bozen-Bolzano

Prof. Michael Gaidoschik

unibz news

„Diagnostische Werkzeuge“ für Lehrkräfte der Mathematik

Was ist das Mindestwissen, das Kinder in Mathematik in einzelnen Inhaltsbereichen benötigen, um in darauf aufbauenden Bereichen erfolgreich weiterlernen zu können? Mit dieser Frage befasst sich ein Forschungsprojekt.

Mit der Frage des mathematischen Mindestwissen befasst sich das von der EU über das Programm Erasmus + geförderte Forschungsprojekt „Diagnostische Werkzeuge für die Mathematik“, an dem Prof. Michael Gaidoschik für die unibz beteiligt ist. Ausgangspunkt für das Forschungsprojekt ist der hohe Prozentsatz der schulpflichtigen Kinder, die das geforderte Grundwissen derzeit leider nicht erreichen.

Herr Prof. Gaidoschik, wie stellt man fest, ob Kinder das für das Weiterlernen auf nächster Stufe erforderliche Grundwissen erlangt haben?
Prof. Michael Gaidoschik: Wenn man von Lernschwierigkeiten in der Mathematik spricht, fällt nicht selten der Begriff der Dyskalkulie. Wir Mathematik-Didaktiker sehen in diesem Fall aber nicht eine „Störung“, die das Kind an sich trägt, sondern vielmehr das Ergebnis eines für dieses Kind offenbar nicht zielführenden Mathematik-Unterrichts. Und das Besondere an der Mathematik ist, dass sie in all den Jahren einer stofflichen Hierarchie folgt; was im zweiten Jahr gelernt werden soll, baut auf dem auf, was hoffentlich im ersten Jahr verstanden wurde. Wenn davon Wesentliches nicht verstanden wurde, sind Schwierigkeiten mit den weiteren Inhalten vorprogrammiert. Deswegen möchten wir mit unseren „diagnostischen Werkzeugen“ den Lehrkräften für Mathematik bessere Möglichkeiten einer Früherkennung von Schwierigkeiten in die Hand geben. Es handelt sich dabei schlichtweg um eine Daueraufgabe, weil die Mathematik eben ein aufbauendes Fach ist, und Lehrkräfte nur dann gezielt etwas gegen Schwierigkeiten unternehmen können, wenn sie diese auch möglichst frühzeitig erkennen.

An welcher Schulstufe setzen Sie dabei an, und welche Rolle spielen nationale Unterschiede in diesem internationalen Projekt?
Das Projekt umfasst die Lernprozesse in Mathematik vom Beginn der Grundschule bis ans Ende der Mittelschule. In den einzelnen europäischen Ländern bestehen allerdings Unterschiede in Curricula und Lernkulturen. So ist in Frankreich beispielsweise der Kindergarten stärker geregelt; die Grundschule umfasst in Italien fünf, in vielen anderen Nationen vier Jahre, und ähnliches. Die Arithmetik ist aber international, und Kind benötigen überall dieselben Kompetenzen, um tragfähige Strategien für in die Addition und Subtraktion erwerben zu können, auf einer nächsten Stufe multiplizieren und dividieren lernen zu können, und so weiter.

Es geht also um die Arithmetik und die Frage, wie diese stufenübergreifend gelehrt werden soll?
Ja. Und es ist eben zum Beispiel klar, dass das Einmaleins zum Basisstoff der ersten 2-3 Jahre gehört, selbst aber wieder auf einem Verständnis des Dezimalsystems, auf Verständnis und Fähigkeiten im Addieren und Subtrahieren aufbaut. Erst wenn ich diese Voraussetzungen beherrsche, kann ich nachhaltig und mit Verständnis das Einmaleins lernen, und erst wenn ich das Einmaleins beherrsche, kann ich wiederum etwa auch mit mehrstelligen Zahlen multiplizieren oder auch dividieren lernen. Diese „innere Lernhierarchie“ der Mathematik ist eben der Grund dafür, dass Lernschwierigkeiten in Mathematik, wenn nicht gezielt etwas dagegen unternommen wird, sich über die Jahre hinweg eher verschlimmern. Von selbst gibt es keine Verbesserung.

Welche weiteren Übergänge werden Sie im Projekt beobachten?
Generell möchte das Projekt die Lehrkräfte dabei unterstützen, Kinder mit Schwierigkeiten im Bereich wichtiger Lernvoraussetzungen über die ersten acht Schuljahre hinweg durchgehend möglichst frühzeitig zu erkennen, um geeignete Maßnahmen setzen zu können. Um das für Lehrkräfte überschaubar und möglichst handhabbar zu machen, werden wir diagnostische Werkzeuge für fünf inhaltlich definierte Schnittstellen des arithmetischen Lernens an die Hand erstellen, wobei diese – je nach Organisation der Grundschule in den teilnehmenden Nationen – am Ende unterschiedlicher Jahre erreicht sein können. Aber es soll jedenfalls ein erstes Screening bereits für die Schuleingangsphase geben, dann zwei für die Grundschule, zwei für die Mittelschule.

Was werden die Lehrkräfte durch das Forschungsprojekt konkret erhalten?
Sie erhalten zum einen Screenings, die sie mit der Klasse mit relativ geringem zeitlichen Aufwand durchführen können, und die ihnen helfen, Kinder mit Schwierigkeiten in wichtigen Bereichen nicht zu übersehen, solche Schwierigkeiten möglichst früh zu erkennen. Zudem erhalten sie Hinweise dafür, wie sie mit diesen Kindern weiterarbeiten können, um die erkannten Schwierigkeiten zu überwinden oder zumindest so weit zu reduzieren, dass das Weiterlernen auf der nächsten Stufe nicht gefährdet ist.
Welche Institutionen sind an diesem Forschungsprojekt beteiligt?
An „Diagnostic Tool in Mathematics – DiToM” wirken unter Projektleitung der Universität Bielefeld sechs Universitäten und ein Dachverband mit: wir als Freie Universität Bozen, weiters die University of Rijeka (Kroatien), die University of Paris-Est-Créteil (Frankreich), die University of the Aegean (Rhodos, Griechenland), der Mathematiklehrkräfte-Dachverband FESPM (Spanien) und die Linne University Vaxjo (Schweden).

Wie ist das Projekt aufgebaut?
Es handelt sich um ein dreijähriges Forschungsprojekt, dass jetzt im Jänner 2023 gestartet ist und mit insgesamt 400.000 Euro durch Erasmus+ von der EU gefördert wird.

Und wie werden die für Lehrkräfte erstellten „Diagnostischen Werkzeuge“ sprachlich ausgearbeitet?
Die Screenings und Handreichungen werden in alle sieben Landessprachen der teilnehmenden Länder übersetzt und den Lehrkräften über eine Internet-Plattform kostenfrei zugänglich gemacht. Eine achte Version wird zusätzlich in Englisch erstellt werden, um auch über die sieben teilnehmenden Länder hinaus Lehrkräften in anderen Nationen Zugangsmöglichkeiten zu bieten. Wir sind als Uni Bozen in der besonderen Situation, an der deutschen Fassung mit der Universität Bielefeld mitzuarbeiten und die italienische zu erstellen.

(vic)